Es kamen Menschen
Forschungsprojekt der Uni Augsburg beleuchtet, wie Zugewanderte aus der Türkei auf ihr Leben in der Fugger-Stadt zurückblicken
Fast die H?fte aller Augsburgerinnen und Augsburger haben das, was man heute als Migrationshintergrund bezeichnet. Welche Lebenswege sich hinter diesem sperrigen Begriff verbergen, untersuchen seit sechs Jahren Forschende der Universit?t Augsburg. Sie kooperieren dabei mit dem staatlichen Textil- und Industriemuseum (tim) und dem interkulturellen Netz Altenhilfe (INA). Das Projekt gibt aus der Türkei Zugewanderten eine Stimme und erh?lt ihre Erinnerungen für die Nachwelt. Es zeigt, dass viele von ihnen sich als Pionierinnen und Wegbereiter sehen - und dass sie mit Stolz auf die Leistungen zurückblicken, die sie gerade für diejenigen erbracht haben, die nach ihnen kamen. ? Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten die Bundesrepublik und die Türkei das sogenannte Anwerbeabkommen. Deutschland wollte dadurch seine Nachfrage nach Arbeitskr?ften decken. Doch viele der Zugewanderten blieben nicht nur für ein paar Jahre, sondern für immer. ?Man hat Arbeitskr?fte gerufen, und es kommen Menschen“, brachte es der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schon 1965 treffend auf den Punkt. ?
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?ber die Erfahrungen dieser Menschen und ihren ganz pers?nlichen Blick auf ihre Anf?nge und ihren Werdegang ist aber noch recht wenig bekannt. ?Gerade auf lokaler Ebene fehlen dazu wissenschaftliche Studien“, erkl?rt Dr. Ina Hagen-Jeske vom Lehrstuhl für Europ?ische Ethnologie/Volkskunde an der Universit?t Augsburg. ?Wir m?chten mit unserem Projekt dazu beitragen, diese Lücke zu schlie?en, und die Augsburger Stadtgeschichte um die Perspektive der Zugezogenen bereichern.“
Denn die Fuggerstadt wurde durch ihre Migrantinnen und Migrantinnen ma?geblich gepr?gt; ohne sie s?he Augsburg heute mit Sicherheit ganz anders aus. Gerade die Textilindustrie als die zentrale wirtschaftliche S?ule der Stadt suchte in den 1960er Jahren h?nderingend nach Arbeitskr?ften - auch nach Frauen. Anders als im von Kohle und Stahl gepr?gten Ruhrgebiet waren es daher zu einem Teil auch Türkinnen, die in Augsburg ihre Chance auf ein besseres Leben suchten.
?Viele von ihnen kamen allein und holten sp?ter ihre Familien nach“, erkl?rt Hagen-Jeske. Der Einfluss, den die zugewanderten Frauen in der entstehenden Community hatten, ist heute noch sichtbar. ?In den Interviews, die wir geführt haben, fallen auch immer wieder die Namen weiblicher Integrationsfiguren“, sagt die Ethnologin. ?Eine davon ist etwa Handan G?rgün, die sich sehr stark für verschiedene Anliegen der türkischen Gemeinschaft engagiert hat, etwa als Mitglied des Betriebsrates in der Kammgarnspinnerei oder im Ausl?nderbeirat der Stadt Augsburg.“
Seinen Ausgangspunkt nahm das Projekt mit insgesamt 25 Gespr?chen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Sie wurden komplett auf Video festgehalten und zus?tzlich verschriftlicht. Sp?ter entstanden - gr??tenteils im Zuge studentischer Bachelor- und Masterarbeiten - weitere Interviews. Inzwischen sind es insgesamt mehr als 50 Film- und Tondokumente, die einen vielschichtigen Einblick in die Anfangsjahre und den Werdegang der Zugewanderten in Augsburg gew?hren.
Ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Entt?uschungen sind individuell sehr unterschiedlich; es sei auch gerade darum gegangen, diese Vielfalt spürbar und h?rbar zu machen, betont Hagen-Jeske. In der Zusammenschau ergeben sich aus diesen Facetten aber auch interessante Parallelen. ?Es hat uns beispielsweise erstaunt, wie oft in den Gespr?chen Formulierungen wie ?wir waren die ersten‘ fielen“, sagt die Wissenschaftlerin. ?Die Befragten sehen sich als Pionierinnen und Pioniere: Sie haben denjenigen, die ihnen nachfolgten, den Weg geebnet - durch die Gründung von Moscheen, von Sportvereinen oder auch ihre Erfahrungen, die sie weitergeben konnten.“
Regelm??ig wird in den Interviews auch der Stolz spürbar, mit dem die Befragten auf ihre Errungenschaften zurückblicken: Wir haben etwas erreicht, für uns, aber auch für unsere neue Heimat - unabh?ngig von den Schwierigkeiten, mit denen wir uns konfrontiert sahen. Dieser Stolz auf das Geleistete sei ein Gegennarrativ zu der klassischen Perspektive, die die Arbeitsmigration in den 1960er Jahren vor allem als eine Geschichte der Schwierigkeiten und Defizite verstehe, sagt Dr. Ina Hagen-Jeske. Natürlich spielen aber auch diese Erfahrungen in den Erz?hlungen eine zentrale Rolle: die harte Arbeit; die Gemeinschaftsunterkünfte, die kaum Platz für Privatssph?re lie?en; die sprachlichen Missverst?ndnisse; das Gefühl, sich nicht beklagen zu k?nnen - sei es, weil man nicht wusste, an wen man sich wenden k?nnte, oder auch einfach, weil man sich nicht traute.
Fast durchg?ngig sei in den Gespr?chen auch deutlich geworden, wie wichtig es den Interviewten war, genannt, gesehen und geh?rt zu werden. ?Dass sie endlich einmal auf Augenh?he über ihre Erfahrungen sprechen konnten, war für sie auch ein Zeichen der Anerkennung und Wertsch?tzung“, betont Hagen-Jeske.
Die Ergebnisse des Projekts sind in ein Buch eingeflossen, das bereits im Buchhandel erh?ltlich ist. Ob einige Interviews darüber hinaus zug?nglich gemacht werden k?nnen, ist noch unklar. ?Leider fehlt es uns an finanzieller F?rderung, um etwa eine internetgestützte Datenbank zu realisieren“, bedauert die Ethnologin. Auch das Buchprojekt lie? sich nur mit Hilfe von Privatspenden umsetzen. ?Diese stammen zum Teil auch aus der Community. Auch das zeigt, wie stark das Bedürfnis dieser Menschen ist, in Augsburg sichtbarer zu werden.“
Publikation:
Herrmann, Leonie/ Hagen-Jeske, Ina/ Kronenbitter, Günther/ ?en, Yaprak, Wagner, Lisa (Hg.):Zurückgespult. Arbeit und Alltag von AugsburgerInnen aus der Türkei. München 2021.164 Seiten, Paperback ISBN 978-3-96233-293-8Ausschnitte aus den Interviews
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