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Thomas Hausmanninger
Eine Einführung in die Grundbegriffe Moralit?t, Moral/Ethos, Sittlichkeit und Ethik

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"Ich rede von Freundschaft. Ich rede von Charakter. Ich rede von - verdammt, Leo, ich sch?me mich nicht, dieses Wort zu benutzen - ich rede von: Ethik!" Mit diesen Worten beginnt der Film "Miller?s Crossing" (USA 1990) von Joel und Ethan Coen. In den Mund gelegt sind sie einer Figur namens Casper, der sich wenige S?tze sp?ter als Gangster entpuppt und sich darüber beschwert, bei seinen betrügerischen Wettgesch?ften seinerseits von seinem Buchmacher betrogen zu werden. Damit gewinnt die Szene einen ironischen Charakter: Hier klagt ausgerechnet ein Verbrecher "Ethik" ein, beschwert sich eine unmoralische Figur über die Unmoral ihrer Kumpane.

Gleichzeitig verweisen die Brüder Coen mit ihrem Filmbeginn auf die berühmte Eingangsszene von Francis Ford Coppolas "The Godfather" ("Der Pate", USA 1971). Auch dort beschwert sich ein Mann, diesmal über Unrecht, das ihm vom Rechtsstaat widerfahren sei. Und auch dort ist von Freundschaft die Rede, zudem von Gerechtigkeit, Respekt, Verpflichtung. Das Gespr?ch scheint geradezu von Moral zu triefen. Wiederum jedoch enth?lt die Szene eine Brechung, allerdings keine ironische: Die "ehrenwerte Gesellschaft", an die der Mann sich mit seiner Beschwerde und einer Bitte um Hilfe wendet, ist eine Verbrecherorganisation, und die eingeklagte "Gerechtigkeit" ist ein brutaler Racheakt. Gerade die moralisch klingende Sprache l?sst dabei zudem ein unheimliches Gefühl entstehen: Sie verkleidet die wirklichen Verh?ltnisse, die Gewaltverh?ltnisse sind, und raubt zugleich die M?glichkeit, mit der Sprache moralischer Begriffe gegen ihre Gewaltt?tigkeit zu protestieren, die Gesellschaft der Unmoral bei ihrem wirklichen Namen zu nennen.

Beide Szenen spielen in ihren Brechungen mit dem unausgesprochenen Wissen des Publikums. Sie setzen voraus, dass das Publikum intuitiv ein Bewusstsein davon besitzt, was Ethik, was moralisch ist. Nur so kann im einen Fall die Ironie, im anderen Fall das unheimliche Gefühl entstehen. Dies ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass die genannte Brechung als Brechung für die Rezipierenden deutlich werden kann. Und es scheint zu funktionieren. Beide Filme scheinen ihre durchaus subtilen Bedeutungskonstruktionen in den Eingangssequenzen ihrem Publikum vermitteln zu k?nnen.

In einem gewissen Kontrast zu diesem vorausgesetzten intuitiven Wissen des Kinopublikums steht jedoch, dass bei der konkreten Unterhaltung darüber, was richtig und falsch ist, die Begriffe für viele, auch für wissenschaftlich t?tige Menschen, pl?tzlich diffus zu werden scheinen. So mag man in der Kneipe nach dem Kulturevent h?ren: "Gegen Ethik habe ich ja nichts, aber Moral finde ich doch recht verstaubt!" Und in der wissenschaftlichen Literatur reden die einen von "moralisch", wo es den anderen "sittlich" ist (einige Zeit war es sogar üblich, von "sittlich-moralisch" zu reden), fordert dieser ein "Ethos" und "ethisches Verhalten" wo eine andere lieber "Moralit?t" s?he. Auch, wie "Ethik" zu begründen sei, unterliegt dem Streit - "nur kontextuell" sagen die Kommunitaristen und fordern eine "moralische Gemeinschaft" statt einer an "prozeduraler Ethik" orientierten Gesellschaft; "universalistisch" kontern die Diskursethiker und Gerechtigkeitstheoretiker; "aus den Interessen und ohne Moralprinzip" meint der Utilitarismus w?hrend eine "Ethik des guten Lebens" oder eine "Neue Tugendethik" von den anderen als einzig m?gliche dagegen ins Feld geführt wird. L?ngere Zeit schienen derartige Begründungsversuche zudem unwissenschaftlich zu sein und zog sich die Ethik "analytisch" auf die Beschreibung moralischen Sprechens zurück.

Im nachfolgenden Text soll deshalb eine Kl?rung der Begriffe aus meiner eigenen Position vorgeschlagen werden. Sie ist zweifelsohne nicht die einzig m?gliche Position - das zeigt schon die vorangehende Aufz?hlung -, l?st aber eine Reihe von Begründungsproblemen, die ich bei anderen Ans?tzen wahrnehme. Auf zentrale Positionen der Ethikbegründung in Geschichte und Gegenwart gehe ich dabei ma?voll ein, soweit dies sich im Gang der Argumentation nahe legt. Mit einer Differenzierung der Elemente moralischen Argumentierens am Ende des Textes hoffe ich zudem, ein Paradigma vorzustellen, das in einem Gespr?ch zwischen den Positionen fruchtbar werden kann, weil es verdeutlicht, auf welches Element man sich jeweils bezieht und wobei jeweils die argumentationslogische Position dieses Elements angesiedelt werden kann. Der Text ist als Einführung gedacht und daher erkl?rend geschrieben; fachwissenschaftliche Komplexit?t habe ich weitgehend in die Fu?noten verbannt.

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1. Moralit?t: Was ist das Moralische an moralischen Vorschriften?

In unserem allt?glichen Handeln folgen wir Normen und Regeln. Normen sind Ma?st?be, die es erm?glichen, etwas zu bewerten. Auch Regeln haben Ma?stabscharakter; sie geben jedoch zudem an, wie etwas zu tun ist. Normen und Regeln ordnen so das Handeln und machen es ebenso wiederholbar wie verl?sslich. Nicht alle Normen und Regeln sind jedoch moralische Gr??en. Die DIN-Norm oder die Regel, vor dem Ausschalten des Computers die Programme herunterzufahren um Sch?den zu vermeiden, empfinden wir intuitiv nicht als etwas Moralisches, obwohl sie gleichfalls ma?st?blichen Charakter tragen und Handeln anweisen. Es scheint also eine bestimmte Qualit?t zu geben, die nur jenen Normen und Regeln zueigen ist, die als moralische Normen und Regeln gelten. Man kann versuchen, diese Qualit?t herauszupr?parieren und auf diese Weise zu verdeutlichen, was das Moralische im Unterschied zum Nicht-Moralischen ist. Gesucht wird dann etwas Allgemeines, eine Eigenschaft, die alle moralischen Normen und Regeln unabh?ngig von ihrem konkreten, besonderen Inhalt stets auszeichnet. Anders gesagt: Gefragt wird, wie alle diese Normen und Regeln beschaffen sein müssen, unabh?ngig davon, was sie im einzelnen inhaltlich bestimmen bzw. vorschreiben. Es geht also darum, welche Beschaffenheit z.B. die Norm der Barmherzigkeit mit der Norm der Rücksichtnahme u.?. oder die Regel, niemanden zu übervorteilen mit der Regel, niemanden zu t?ten u.?. gemeinsam hat.

Diese Beschaffenheit kann man freilich auf verschiedene Art und Weise herauszupr?parieren versuchen. Man kann etwa fragen, was das Beste für den Menschen als Menschen ist. In diesem Fall wird zun?chst ein allgemeines Bild des Menschen verfertigt, das sein "Wesen" einfangen soll und zu dem sich Handlungsvorschriften in Beziehung setzen lassen müssen.1 Alle Normen, die auf das Beste für den Menschen im Sinn dieses Bildes zielen, sind dann moralische Normen. Ihre Gemeinsamkeit ist dieser Grundbezug. Er zeichnet sie durchg?ngig aus. Im Zentrum einer solchen Bestimmung des Moralischen steht damit die Anthropologie. Sie spielt eine gewichtige Rolle etwa in der Ethik Platons oder Aristoteles?. In der Tat kommt keine Ethik, keine Reflexion über das Moralische und insbesondere keine Begründung inhaltlicher Normen und Regeln vollst?ndig ohne Anthropologie aus. Eine rein anthropologische Begründung des Moralischen und inhaltlicher moralischer Normen birgt jedoch Fallstricke in sich. Der entscheidende Fallstrick ist dabei jene begründungstheoretische Problematik, die in der Neuzeit David Hume verdeutlicht hat und die gemeinhin als Sein-Sollens-Fehlschluss benannt wird2: Streng genommen kann die Anthropologie lediglich aufzeigen, was der Mensch ist und welche Funktionalit?ten ihm eigen sind. Auch wenn man sie nicht als eine rein empirische Deskription, sondern als geisteswissenschaftliche Deutung des Menschen versteht, kann sie über Ist-Aussagen und Funktionsaussagen nicht hinausgelangen. Ob das, was ist, auch sein soll, ob eine m?gliche Funktion auch stattfinden soll, ben?tigt hingegen eine andere Begründungsbasis.

Am Beispiel der Gewaltproblematik l?sst sich dies rasch einsichtig machen - auch ohne den Gewaltbegriff hier genauer zu kl?ren: Anthropologisch richtig ist sicherlich, dass der Mensch ein verletzungsoffenes Wesen und zugleich mit funktionalen M?glichkeiten ausgestattet ist, die ihn zu Gewaltübung bef?higen. Damit ist jedoch noch keineswegs gegeben und noch weniger begründet, dass der Mensch verletzt werden oder nicht verletzt werden, dass er Gewalt ausüben oder sich dessen enthalten soll. Bei Sollensaussagen geht es um das Handeln, das sich die Kenntnis von Ist-Zust?nden und m?glichen Funktionalit?ten zunutze macht, dessen normative Orientierung jedoch (zumindest auch) aus einer anderen Quelle gespeist werden muss.

In ein solches Problem verwickeln sich letztlich alle Versuche, das Moralische zu bestimmen und moralische Handlungsnormen zu begründen, die bei der Frage ansetzen, was etwas ist und wie etwas funktioniert. Dies gilt daher auch und gerade, wenn der immerhin noch auf den Menschen konzentrierte Bereich der Anthropologie verlassen und im "Sein" schlechthin - wie in metaphysischen Ethiken - oder im Kosmos, in der Welt, der Natur, dem "Ganzen" etc. - wie bei verschiedenen ?kologischen Ethiken, insbesondere der Physiozentrik und der Biozentrik3 - jene gemeinsame Bezugsbasis erblickt wird, aus denen sich bestimmte Normen und Regeln als moralisch erweisen sollen. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich hier partiell um durchaus aktuelle Bemühungen handelt, verstricken sich alle diese Versuche in den Sein-Sollens-Fehlschluss.

Nun lie?e sich freilich auch bei vorhandenen Orientierungsformen menschlicher Praxis, wie der Tradition schlechthin oder überkommenen Normen und Regeln, die schon als moralisch gelten, ansetzen. Man k?nnte sich damit bescheiden, sie zu sichten und auf ihre innere Konsistenz sowie ihre Koh?renz untereinander hinzuarbeiten. Auf diese Art und Weise würde man verdeutlichen, welche Normen und Regeln sich intern nicht widersprechen und mit welchen sie zusammen passen. Ihre sie als moralisch auszeichnende Beschaffenheit l?ge dann darin, dass sie ein koh?rentes Korpus konsistenter Normen und Regeln abgeben, deren zumindest ein Teil bereits zuvor als moralisch akzeptiert ist, so dass nun auch das koh?rente Gesamtkorpus als moralisch erscheinen muss. Auch diesen Weg beschreitet - neben der Anthropologie und weiteren Reflexionen - bereits Aristoteles, in diesem Fall für den Bereich moralischer Haltungen, der "Tugenden". In der Gegenwart bemühen sich einige Autoren des Kommunitarismus4, allen voran Alasdair MacIntyre5, um eine solche Bestimmung des Moralischen.

Doch bleiben auch hier Schwierigkeiten: Zum einen stellt sich die Frage, wie einander ausschlie?ende Normen und Regeln, die einander ausschlie?enden Lebensformen zugeh?ren und die wir dennoch intuitiv als gleicherma?en moralisch empfinden - wie etwa die Ehe und das Leben als M?nch - unter diesen Pr?missen zu Koh?renz zu bringen sind. Zum anderen w?re zumindest hypothetisch zu fragen, wie sich ein solcher Ansatz davor schützen m?chte, die Konsistenz und Koh?renz des B?sen nicht irrtümlich und kontraintuitiv als moralisch auszuzeichnen oder auch nur funktionale und moralische Normativit?t miteinander zu verwechseln. In sich betrachtet hat beispielsweise ebenso der Nationalsozialismus seine Konsistenz und Koh?renz; ?hnliches gilt für das zirkelinterne Reglement der Wettbetrüger aus dem eingangs zitierten Filmbeispiel. Und zwar scheint man unter der Pr?misse, ausschlie?lich bereits als moralisch geltende Normen und Regeln zu untersuchen, vor einer Verwechslung mit funktionalen Normen und Regeln bewahrt zu bleiben. Doch mischen sich funktionale Vorschriften immer wieder unter das Set der moralischen. Keine Unterschlagungen zu begehen beispielsweise, hat einen moralischen und einen funktionalen Aspekt: Moralisch ist es, weil darin die Maximen der Ehrlichkeit und Treue beachtet werden, funktional hingegen, weil dies eine der ?konomischen ?berlebensbedingungen für ein Unternehmen ist. (Man k?nnte auch sagen: Die Maximen der Ehrlichkeit und Treue haben in dieser Hinsicht eine sowohl moralische als auch funktionale Bedeutung. Sie lassen sich jedoch nie als nur funktionale Gr??en betrachten - in ihnen geht es um mehr als blo? ?konomische6 Belange.) Was bewahrt aber nun bei einer Konsistenz- und Koh?renzkl?rung davor, die Maxime der Ehrlichkeit an der Stelle über Bord zu werfen, an der diese sich als dysfunktional für ein Unternehmen erweist, und so der funktionalen Maxime des wirtschaftlichen Erfolges den Vorrang einzur?umen? Wieso nicht zwar die Unterschlagung verbieten und zugleich die profitable ?bervorteilung und den Betrug von Konkurrenten und Kunden empfehlen, soweit dies ohne sch?dliche Rückwirkung auf künftige Gesch?fte m?glich ist?

Der Kommunitarier Charles Taylor hat versucht, dem ersten Dilemma dadurch zu entgehen, dass er eine Sph?re von obersten Gütern, "hypergoods", annimmt.7 Diese haben einen normativen Status gegenüber den Einzelnormen und Regeln, bilden also die diesen gemeinsame Bezugssph?re. Je nach Bestimmung dieser "hypergoods" erlaubt dies durchaus differente Lebensformen und mithin Differenz und Pluralit?t auch bei den Einzelnormen und Regeln, die diesen Lebensformen zugeh?ren. Konsistenz und Koh?renz hingegen ist durch ihre Zuordnung zu den "hypergoods" gew?hrleistet. Auf diese Weise kann man auch dem zweiten Dilemma begegnen: Je nachdem, wie die "hypergoods" bestimmt werden, scheiden verbrecherische und intuitiv als unmoralisch erscheinende, jedoch intern konsistente und koh?rente Norm- und Regelwerke aus. In Deutschland lie?e sich ein verwandter Weg im Ausgang von Grundwerten - etwa den die Verfassung fundierenden - beschreiten. Damit lie?e sich zugleich der Verwechslung von funktionaler und moralischer Normativit?t wehren: Sind die Grundwerte moralischer Natur und bilden sie den eigentlichen Begründungsrahmen, so k?nnen sich ihnen zuordnende Normen und Regeln nicht durch funktionale Gr??en ausgeschaltet werden. Doch drohen sich die Dilemmata dann auf der Ebene der Grundwerte oder "hypergoods" zu wiederholen. Was sichert deren moralischen Status, worin gründet ihre moralische Qualit?t?8

Im ganzen k?nnte man sagen, dass Autoren wie Taylor ihre Frage nicht radikal genug stellen. Sie fragen nicht tief genug nach der Beschaffenheit moralischer Normen und Regeln. Ihre Untersuchung richtet sich nicht entschieden genug darauf, die Eigenart des moralischen Sollens herauszuarbeiten. Diese Eigenart und mit ihr das Moralische finden wir hingegen, wenn wir nach der Logik, der Grundstruktur der moralischen Praxis fragen. Moralische Normen und Regeln orientieren das Handeln in dieser Praxis, sie sind gewisserma?en die inhaltliche Konkretion derselben. Daher finden sie ihr Gemeinsames, das gesuchte Allgemeine, jene Qualit?t, durch die sie moralische Gr??en sind, eben darin, dass sie alle dieser Praxislogik gehorchen, von dieser ihre Struktur, ihre spezifische Form erhalten.

Wir k?nnen diese Logik der moralischen Praxis herausarbeiten, indem wir zu verdeutlichen versuchen, wogegen sich unsere moralische Intuition bei den Filmbeispielen bzw. den Beispielen der Koh?renz und Konsistenz des B?sen sowie der Verwechslung funktionaler und moralischer Normativit?t wehrt. Wir nehmen bei diesen Beispielen stets eine innere Widersprüchlichkeit wahr, auch wenn Normen und Regeln in ihrer (so müssen wir nun erg?nzen) grammatischen und kausalen Beschaffenheit sowie innerhalb der Gruppe, die sie für sich aufstellt, oder in der funktionalen Betrachtung durchaus konsistent und koh?rent erscheinen m?gen. Die Widersprüchlichkeit, die sich spüren l?sst, findet sich auch nicht innerhalb der grammatischen und kausalen Struktur der Norm oder Regel, ebenso wenig innerhalb der Gruppe oder Funktionalit?t. Sie findet sich vielmehr eben darin, dass diese Norm oder Regel gemessen an der Logik moralischer Praxis inkonsistent oder inkoh?rent erscheint. Als moralische Norm bzw. Regel genommen, wird sie dieser Logik, der Struktur moralischen Handelns schlechthin nicht gerecht und bringt sich daher selbst in einen Widerspruch zur Beifügung, einer contradictio in adjecto, die jetzt freilich, weil die Regel oder Norm ja als von moralischer Struktur, von moralischer Qualit?t und Beschaffenheit zu sein behauptet, doch als innerer Widerspruch erscheint.

Im Fall des Gangsters Casper entsteht der Widerspruch daraus, dass er einerseits Verl?sslichkeit, Treue und Ehrlichkeit von seinen Partnern erwartet, eben diese Verl?sslichkeit, Treue und Ehrlichkeit jedoch den anderen an der Wette Beteiligten, den Wettenden, verweigert. Innerhalb des einen Handlungszusammenhangs der Wette fordert Casper so bestimmte moralische Standards ein, die er gleichzeitig durch sein Handeln negiert. Er begibt sich damit in einen performativen Widerspruch. Dabei verletzt er etwas, das er zugleich voraussetzt: Er m?chte von seinen Partnern als gleichrangiges Wesen respektiert und (neben profitbezogenen Interessen zumindest auch) aus diesem Grund nicht betrogen werden, verweigert im selben Moment seinen Respekt aber den Wettenden als ihm gleichrangigen Wesen. ?hnlich verh?lt es sich auch bei der (scheinbaren) Konsistenz und Koh?renz des B?sen: Hier wird durch Normen und Regeln sowie ihre Realisierung im Handeln unmittelbar oder mittelbar jemandem etwas angetan, ohne dass dies für den oder die Betroffenen zustimmungsf?hig ist.

An dieser Stelle wird deshalb die Logik moralischer Praxis greifbar: Es ist die Praxis von Wesen, die sich grunds?tzlich als statusgleich, von derselben Würde erachten. Alle Normen und Regeln k?nnen für diese Wesen daher nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle durch sie und ihre Befolgung Betroffenen mit ihnen einverstanden sein k?nnen. Eben dies macht auch die Differenz zwischen moralischen und funktionalen Normen und Regeln aus: Moralische Normen müssen für alle Betroffenen zustimmungsf?hig sein. Andernfalls sind sie zwar eventuell immer noch eufunktional, fügen sich stimmig in einen gegebenen Funktionszusammenhang ein, doch k?nnen sie nicht als moralisch bezeichnet werden.

Damit kann die Beschaffenheit des Moralischen auf den Begriff gebracht werden: Moralisch ist, was sich verallgemeinern, universalisieren, l?sst, weil es für alle Betroffenen grunds?tzlich zustimmungsf?hig ist. Gleichzeitig wird darin der Status der Gleichrangigkeit aller Handlungspartner bzw. -partnerinnen und der vom Handeln Betroffenen, also aller aktiven und passiven Teilnehmenden an moralischer Praxis berücksichtigt. Erstmals bündig auf den Begriff gebracht hat diese Beschaffenheit des Moralischen Immanuel Kant in seinem Kategorischen Imperativ. Die beiden bekanntesten Formulierungen, die Universalisierungsformel und die Selbstzwecklichkeitsformel, lassen dabei die voranstehend genannten beiden Momente der Verallgemeinerbarkeit durch Zustimmungsf?higkeit und der Gleichachtung aufscheinen.9

Bei seiner Rekonstruktion der Logik moralischer Praxis, die er als Rekonstruktion der Struktur der moralisch-praktischen Vernunft anlegt, geht Kant mancherlei bis in die Gegenwart dunkel bleibende Wege. Attraktiver erscheint deshalb heute nicht selten der Weg, den die Diskursethik beschreitet, wenn sie die Struktur diskursiver Kommunikation auf ihre unhintergehbaren moralischen Voraussetzungen untersucht und so gleichfalls die Logik moralischer Praxis eruiert.10 Wieder etwas anders verf?hrt John Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie.11 Er kombiniert spiel- und vertragstheoretische ?berlegungen im Rahmen der Unparteilichkeit, also einer grunds?tzlichen Situation der Gleichachtung. Obschon sie unterschiedliche Wege gehen, findet sich in allen genannten Entwürfen jedoch im gro?en und ganzen dieselbe Bestimmung des Moralischen wieder. Universalisierbarkeit und Gleichachtung bilden stets die entscheidenden Bestimmungsstücke. Wir k?nnen in der Tatsache, dass diese untereinander durchaus verschiedenen Ans?tze doch letztendlich dieselbe Grundstruktur erarbeiten, deshalb geradezu einen Beleg dafür sehen, dass diese Grundstruktur auch wirklich das Moralische in seiner Eigenart darstellt. Erst hier ist daher verl?sslicher und sicherer Boden gewonnen. Ob man im einzelnen den Begründungsweg Kants, der Diskursethik oder der Gerechtigkeitstheorie vorzieht, erscheint hingegen eher nachrangig.

Kant allerdings ist es zu verdanken, dabei die beiden zentralen Eigenschaften der Wesen, die das Zugrundeliegende, die Tr?ger - die Subjekte - des Moralischen sind, unverstellt benannt zu haben (w?hrend sie in der Diskursethik und bei Rawls eher im Hintergrund bzw. unausgesprochen wirksam sind): Es sind jene Wesen, die über Vernunft und Freiheit verfügen. Damit kommt ein Anklang an die Anthropologie ins Spiel. Es ist allerdings eine Anthropologie, die bei Kant aus der Rekonstruktion des Moralischen hervorgeht und auf inhaltliche Beschreibungen des Menschenwesens verzichtet. Vernunft und Freiheit sind Elemente, die untrennbar mit der M?glichkeit moralischer Praxis verwoben sind, sich in deren Rekonstruktion als notwendige Bedingungen zeigen.

Umgekehrt l?sst sich diese Rekonstruktion damit nochmals deutlicher schlüssig machen: Wenn alle an der moralischen Praxis beteiligten Wesen Vernunftwesen sind, so müssen sie sich geradezu wechselseitig gleichachten. Vernunft n?mlich ist in ihnen allen dieselbe Potenz, dasselbe Verm?gen. Daher k?me diese Vernunft bei ihrer praktischen Verwirklichung gewisserma?en mit sich selbst in Widerspruch, wenn sie sich im einen Wesen als diese Vernunft anerkennen und zugleich einem anderen Vernunftwesen die Anerkennung als Vernunftwesen verweigern würde - sie würde dann letztlich sich selbst die Anerkennung versagen. Sind diese Vernunftwesen frei, so k?nnen und müssen sie sich zudem beim Handeln stets entscheiden. Damit unterliegt auch die Anerkennung der Normen und Regeln, denen ihre Handlungen folgen, ihrer Entscheidung. Auch diese Freiheit ist in allen Freiheitswesen dieselbe. Mithin k?me die Vernunft erneut in Widerspruch mit sich, wenn sie diese Freiheit im eigenen Wesen anerkennen und in einem anderen Freiheitswesen nicht anerkennen würde.

Die Anerkennung der Freiheit impliziert aber, dass die vernünftigen Freiheitswesen die jeweils im anderen waltende Entscheidungsfreiheit dadurch respektieren, dass sie bei Regeln und Normen für vernünftige Freiheitswesen die Mitsprache bzw. grunds?tzliche Zustimmungsf?higkeit zur Geltungsbedingung erkl?ren. Dies gilt um so mehr, wenn Freiheit als produktive, kreative Entwurfsfreiheit verstanden wird. Der freie Entwurf bleibt nur m?glich, wenn alle Norm- und Regelgeltung an die genannte Zustimmungsf?higkeit gebunden wird. Der Begriff des Moralischen und das Selbstverst?ndnis des Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen geh?ren so untrennbar zusammen.

Gleichzeitig verweist die Freiheit jedoch auch darauf, dass Vernunftwesen durchaus gegen ihre Vernunft versto?en und sich vernunftwidrig verhalten k?nnen. Ihr Wille muss nicht immer vernünftig und konsistent sein. Nicht Kant, sondern Augustinus hat den Willen daher geradezu als eigenst?ndige Kraft bestimmt. Auch mit Blick auf Kant jedoch l?sst sich diese M?glichkeit denken.12 Weil die Freiheit ein vernunftwidriges, unmoralisches Verhalten offen l?sst, erscheint den Vernunft- und Freiheitswesen das moralisch Vernünftige in Gestalt des Sollens. Es erh?lt den Charakter der N?tigung des Vernunft- und Freiheitswesens durch eben seine Vernunft. Auch die Struktur des Sollens tritt auf diese Weise zutage: Es gründet in der Freiheit, die sich als vernünftige selbst n?tigt, sich vernunftgem?? auszulegen.

Damit ist der Begriff des Moralischen gekl?rt. Gefragt wurde nach der gemeinsamen Beschaffenheit moralischer Normen und Regeln im Unterschied zu anderen Normen und Regeln. Diese ist nun darin zu sehen, dass moralische Normen und Regeln an die Universalisierbarkeit und darin an die Gleichachtung aller von ihnen und ihrer Befolgung Betroffenen gebunden sind. Eben dies ist ihre formale Qualit?t, unabh?ngig von ihrer je konkreten Inhaltlichkeit. Diese formale Qualit?t soll im folgenden nun Moralit?t hei?en.

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2. Menschenwürde und praktische Vernunft

Vor dem entfalteten Hintergrund k?nnen nun einige Begriffe fixiert und einige weitere eingeführt werden. Zuletzt war zu sehen, dass Moralit?t untrennbar mit Vernunft und Freiheit verbunden ist. Sie ist der Inbegriff der Logik der Praxis freier, gleicher und vernünftiger Subjekte. Vernünftige Freiheit n?tigt ihre Tr?ger, ihre Subjekte, dazu, sich wechselseitig als Freiheitswesen zu achten.

?ber den Begriff der Achtung k?nnen wir den zuvor bereits einmal genannten Begriff der Würde einführen, der als Menschenwürde in den modernen demokratischen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielt. Würde eignet dem, so sagt es Kant, was "über allen Preis erhaben ist, mithin kein ?quivalent verstattet"13, also durch nichts anderes ersetzt werden kann. Mit Rückgriff auf die Systemtheorie k?nnen wir den Begriff des ?quivalents genauer bestimmen: ?quivalent ist all das, das sich in seiner Funktion durch etwas anderes, das diese Funktion gleicherma?en erfüllen kann, ersetzen l?sst.14 Funktionale ?quivalenz von etwas festzustellen, hei?t jedoch, dieses etwas zu einem Objekt, zu einem Ding zu machen. Wir bestimmen das Ding in der Regel geradezu durch das, wozu es dient oder sich gebrauchen l?sst. Entsprechend erscheint es auch ersetzbar, n?mlich durch ein funktional ?quivalentes Ding, entweder durch etwas Gleiches oder ein Anderes, dessen Funktionstauglichkeit dieselbe ist.15 Dabei geh?rt zur Dinglichkeit au?erdem, dass sich das dingliche Etwas unbefragt zu etwas einsetzen oder durch etwas ersetzen l?sst, ohne dass dadurch gegen seine Beschaffenheit, sein "Wesen" gehandelt würde.

Die Reduktion auf eine Funktionstauglichkeit wie auch der unbefragte Einsatz oder Ersatz aber l?sst sich bei vernünftigen Freiheitswesen nicht vollziehen, ohne gegen deren "Wesen", ihre Beschaffenheit zu versto?en. Vernunft- und Freiheitswesen dienen nicht einfach zu etwas und sind nicht einfach für etwas zu gebrauchen, sondern k?nnen selbst die Zwecke hervorbringen, denen sie sich zu widmen wünschen, und selbst darüber bestimmen, wozu und wofür sie sich einsetzen wollen. Zwar k?nnen sie einander dabei bei bestimmten Funktionen mehr oder weniger gleichwertig ersetzen, doch ihre freie Wahl der Zwecke und Funktionen, ihr freier Selbstvollzug kann keinesfalls ersetzt werden. Dies gilt insbesondere für den freien Selbstvollzug als moralisches Wesen (hierauf kommt es Kant besonders an). Jeder Versuch, den freien Selbstvollzug durch etwas anderes oder das Handeln eines anderen ersetzen zu wollen, hie?e daher, gegen die Beschaffenheit von Vernunft- und Freiheitswesen zu versto?en.16 Es hie?e, sie zu behandeln wie Dinge. Soweit Vernunft- und Freiheitswesen für bestimmte Zwecke eingesetzt oder auch in bestimmten Funktionen ausgetauscht werden sollen, bedarf dies daher ihrer freien Zustimmung, also der vorg?ngigen Einr?umung der M?glichkeit zum Vollzug ihrer Freiheit.

Diese Freiheit einzur?umen aber hei?t, die Freiheit des oder der anderen zu respektieren. Will man der Beschaffenheit von Vernunft- und Freiheitswesen in der Praxis des Handelns und der Interaktion gerecht werden, so muss diese Praxis mithin von einer grunds?tzlichen Respektierung der Freiheit, und damit von einer grunds?tzlichen wechselseitigen Achtung der Freiheitswesen getragen sein. Die Freiheitswesen messen sich darin grunds?tzlich denselben Status zu, lassen sich in ihrer Freiheit wechselseitig frei und achten so wechselseitig die in der Unvertretbarkeit ihres freien Selbstvollzugs gründende Würde. Wurzelgrund der Menschenwürde ist also die Freiheit. Vermittelt über die Freiheit stehen zudem Menschenwürde und Moralit?t in einem engen Verh?ltnis zueinander: Im Vollzug der Moralit?t wird zugleich die Achtung der Menschenwürde vollzogen, und die Menschenwürde achten hei?t: nicht anders als moralisch handeln zu k?nnen.

Moralit?t als Selbstn?tigung von Freiheitswesen durch ihre Vernunft bildet nun zugleich jedoch eine Potenz, ein Verm?gen: Da Vernunft- und Freiheitswesen als solche immer schon im Besitz zumindest der M?glichkeit sind, die ihnen zugeh?rige Logik der Praxis zu entdecken, n?mlich in der Selbstreflexion vernünftiger Freiheit, sind sie auch Wesen der Moralit?t im Sinn des Verm?gens zum moralischen Selbstvollzug. Von hier aus lassen sich drei weitere Begriffe einführen:

Vernunft- und Freiheitswesen sind durch ihre Vernunft in der Lage, ihre Praxis zu reflektieren, zu prüfen und zu entwerfen. Dabei verwenden sie ihre Vernunft praktisch, also als praktische Vernunft. Dies wiederum ist in mehrerlei Weise m?glich: Praktische Vernunft kann sich darauf beschr?nken, über die geeigneten Mittel nachzudenken, die sich für die Erreichung bereits gegebener Zwecke eignen. Bei Kant erscheint dies als empirischer Gebrauch der praktischen Vernunft, weil hier ein empirisch, d.h. faktisch vorhandener Zweck (wie etwa einen faktischer Wunsch oder Wille) vorausgesetzt ist.17 Jürgen Habermas hat jüngst diese Vernunftanwendung als pragmatischen Gebrauch akzentuiert.18 Aus Gründen der gr??eren Plastizit?t übernehmen wir diese Etikettierung.19

Praktische Vernunft kann jedoch auch darüber nachdenken, wer die konkrete Person, die sich ihrer bedient, sein m?chte, worin die jeweilige pers?nliche Vorstellung eines sinnvollen und glücklichen Lebens besteht und dann entsprechende praktische Ma?gaben hierfür ersinnen. Diesen Gebrauch nennt Habermas ethisch.20 Dieses Etikett erscheint jedoch nicht sehr gut gew?hlt, da es falsche Zuordnungen zum Substantiv Ethik nahe legt. Weil eben die genannte Reflexion eine zentrale Stelle in der Ethik des Aristoteles einnimmt und dieser das glückliche und sinnvoll gelingende Leben mit dem Begriff der eudaimonia belegt, sei dieser Gebrauch der praktischen Vernunft deshalb der eudaimonistische genannt.

Schlie?lich aber kann praktische Vernunft auch die Zwecke, Sinn- und Glücksvorstellungen selbst reflektieren oder allererst entwerfen und sie hierbei zusammen mit den Mitteln ihrer Verwirklichung auf ihre Vertr?glichkeit mit der Moralit?t prüfen. Sie realisiert sich dann als moralisch-praktische Vernunft.

Schon an dieser Stelle sei angemerkt, dass im hier angezielten Verst?ndnis moralisch-praktische Vernunft stets auch als pragmatische und eudaimonistische praktische Vernunft reflektieren muss, wenn sie wirklich moralisch-praktische Vernunft sein will. Die Bestimmung der Mittel ist nicht unerheblich für die Moralit?t von Normen und Regeln. Darüber hinaus w?re die - mit Kant gesprochen - Selbstzwecklichkeit des Menschen verletzt, wenn Moralit?t auf Kosten gelingend-glücklichen Lebens realisiert werden müsste. Wo immer dies unumg?nglich erscheint, tritt deshalb auch ein moralisches Defizit vor Augen. Zurecht insistiert Kant daher auf der Verpflichtungskraft des h?chsten Gutes, d.h. dem Zusammenklingen von Moralit?t und Glückseligkeit, moralischem und gelingend-glücklichem Leben, als moralischer Verpflichtungskraft und nennt er eine Pflicht zur Bef?rderung (zumindest) fremder Glückseligkeit.21

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3. Moral, Ethos, Sittlichkeit, Ethik: Abgrenzungen

Bislang haben wir uns auf einer formalen Ebene bewegt und die formale Qualit?t Moralit?t sowie einige Formen des praktischen Vernunftgebrauchs skizziert. Wir ben?tigen jedoch auch Begriffe für die Bezeichnung inhaltlicher Moralvorstellungen, also für die konkreten moralischen Normen und Regeln, die Menschen für sich als bindend erachten. Und es muss klargestellt werden, was als Ethik bezeichnet werden soll und wie sich die ethische Betrachtung des Moralischen von anderen m?glichen Betrachtungsweisen abhebt. Vor dem Hintergrund des bereits Entfalteten kann dies nun knapper geschehen.

Inhaltliche Moralvorstellungen, also Vorstellungen davon, was konkret als gut und als b?se zu betrachten und wie in konkreten Situationen jeweils zu handeln sei, nennen wir Ethos oder Moral. Beide Begriffe werden dabei identisch benützt. Legitim erscheint das nicht zuletzt, da das deutsche Wort Moral auf die lateinische ?bersetzung des griechischen Wortes ethos bzw. ?thos zurückgeht. Ethos bezeichnet im Griechischen sowohl Sitten, Gebr?uche, Gewohnheiten - also etwas Normatives und Regelhaftes, das individuell und sozial bindend ist - wie auch einen zum Charakter verfestigten Habitus, der in einzelne Haltungen aufgegliedert als Korpus von Funktionstüchtigkeiten und Tugenden erscheint. Moral ist im Lateinischen mos und bedeutet Sitte, das ?bliche. Insoweit voranstehend nun jedoch bereits das spezifisch Moralische herausgearbeitet wurde, sollen die deutschen Begriffe Ethos und Moral nur noch für eben moralische, also der Struktur der Moralit?t entsprechende normative Gr??en - Prinzipien, Normen, Regeln, Imperative - gebraucht werden. Dabei schr?nken wir zus?tzlich ein: Ethos bzw. Moral nennen wir zun?chst einmal in erster Linie die normativen Gr??en, die ein Individuum für sich und sein Leben als bindend erachtet.

In der Regel werden Moralvorstellungen jedoch auch von mehreren Menschen geteilt. Eine ganze Gruppe kann z.B. ein bestimmtes Korpus von Moralvorstellungen für sich als bindend erachten und hieraus geradezu ihre moralische Identit?t gewinnen. In diesem Fall l?sst sich von Binnenmoral oder - mit Rückgriff auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels Begrifflichkeit - von (gruppenspezifischer) Sittlichkeit sprechen. Hegel denkt den Sittlichkeitsbegriff dabei als übergreifende Bezeichnung für die spezifischen Moralvorstellungen eines ganzen Volkes und bzw. oder einer geschichtlichen Epoche.22 Die Abgrenzung zwischen dieser Art von Sittlichkeit und Binnenmoralen ist daher freilich schwierig und nur bedingt trennscharf zu leisten.

Im folgenden soll der Begriff der Binnenmoral daher dann verwendet werden, wenn sich eine Gruppe innerhalb einer Soziet?t damit zugleich von den übrigen Mitgliedern dieser Soziet?t unterscheidet oder auch unterscheiden will. Der Begriff der Sittlichkeit soll hingegen für Gro?gruppen und ganze Soziet?ten reserviert bleiben. Relationale Rede ist dabei m?glich: So wird man mit Blick auf die Gro?gruppe der Christen etwa von christlicher Sittlichkeit sprechen. Nimmt man nur die katholische Christenheit in Blick, ist jedoch auch die Rede von katholischer Sittlichkeit angemessen, w?hrend diese mit Blick auf die Gesamtheit der Christen als Binnenmoral erscheint. ?hnlich kann die christliche Sittlichkeit innerhalb einer plural zusammengesetzten modernen Gesellschaft als Binnenmoral erscheinen, w?hrend das Rahmenethos, der von allen Gesellschaftsmitgliedern - auch den Christen - zu teilende moralische Grundkonsens als gemeinsame Sittlichkeit bezeichnet werden k?nnte.

Ethik schlie?lich soll ausschlie?lich die wissenschaftliche theoretische Besch?ftigung mit Moral bzw. Ethos, Binnenmoralen und Sittlichkeit benennen. Dabei wird Ethik jedoch als normative Disziplin verstanden: Ihr geht es um die kritische Sichtung und Begründung von Moralvorstellungen, also um die Erarbeitung dessen, was Moralit?t ist, die ?berprüfung bestehender Moralvorstellungen auf ihre Moralit?t und den Entwurf von normativen L?sungen für neue moralische Problemstellungen.

Unterscheiden lassen sich dabei zwei Fragerichtungen der Ethik, die zwei differente Disziplinen in ihr begründen: Widmet sich die Ethik dem Ethos des Individuums, der Frage nach dem individuellen Sollen und dem Gewissen, so ist sie Individualethik. Richtet sich die Ethik hingegen auf Strukturen, die den Entscheidungsraum und die Entscheidungsmacht eines einzelnen Individuums überschreiten, so ist sie Sozialethik.23 Individualethik hat es mithin mit der moralischen Gutheit des individuellen Handelns, mit dem guten Willen der Person, ihren Verpflichtungen und ihrem moralischen Gelingen zu tun. Sozialethik hingegen befasst sich damit, wie die Strukturen, in denen die einzelnen Personen leben, beschaffen sein sollen, damit von diesen Personen das je eigene moralische Gelingen angestrebt werden kann und sie auch die Chance haben, dieses zu erreichen.24

Die Strukturen, um die es geht, lassen sich dabei grob in zwei Dimensionen gliedern: Zum einen k?nnen es Strukturen der Lebenswelt, also der durch symbolisches Handeln, gemeinsame Rituale etc. vermittelten Sph?re sich von unten her aufbauender Sozialit?t sein. Plastisches Beispiel für lebensweltliche Strukturen sind etwa jugendliche Subkulturen oder gemeinsam geteilte Rituale wie das H?ndeschütteln bei Begrü?ungen. Zum anderen geht es jedoch auch um gesellschaftliche Handlungssysteme wie die Wirtschaft, die Politik, die Religion etc., die meist zugleich in Organisationen, Institutionen und dergleichen verfestigt sind. Lebenswelt und Systeme durchdringen sich freilich auch. So bauen Individuen innerhalb von Handlungssystemen auch symbolische Interaktionsformen eigenst?ndig auf, die nicht in erster Linie systemisch, sondern durch die jeweiligen Pers?nlichkeitsstrukturen bedingt sind. Beispiele dafür sind etwa die individuelle Ausschmückung von Arbeitspl?tzen oder die speziellen Riten der Kaffee- und Zigarettenpausen in Büros etc.25 Au?erdem bleibt festzuhalten, dass die Differenzierung von Individualethik und Sozialethik in erster Linie eine Unterscheidung von Frageperspektiven ist. Auch Handeln innerhalb der sozialen Handlungssysteme hat eine individuelle Entscheidungsdimension und l?sst Fragen nach der moralischen Gutheit, des geforderten Ethos der Person etc. stellen.

Als normative Wissenschaft befasst sich Ethik dabei in beiden Formen mit dem, was sein soll und der Begründungsbasis dieses jeweiligen Gesollten. Das unterscheidet sie von den kenntnisnehmenden Wissenschaften, die sich mit der Wirklichkeit in ihrem Ist-Zustand und ihrer Funktionalit?t sowie ihren Funktionsgesetzen befassen. Es unterscheidet sie ebenso von den instrumentellen oder - mit Rückgriff auf die Differenzierung der praktischen Vernunft gesprochen - von den pragmatisch orientierten Wissenschaften, die aus der Kenntnis dessen, was etwas ist und wie etwas funktioniert (oder funktionieren k?nnte) neue Mittel für Zwecke, neue technische M?glichkeiten und auch neue Funktionszusammenh?nge (die dann neue m?gliche Funktionszwecke entdecken lassen) herausentwickeln. Dabei ist mit dieser Differenzsetzung nicht gesagt, dass für die Ethik, für ihre Normierung und ihre Begründungsleistungen, die Kenntnis dessen, was etwas ist und wie etwas funktioniert, unerheblich sei. Weiter unten, wenn die Struktur ethischen Argumentierens entwickelt wird, wird sich dies deutlich zeigen. Die Differenzsetzung will lediglich von vorneherein bewusst halten, dass die spezifisch ethische Begründung nicht (allein und letztbezüglich) von einer wissenschaftlichen Erarbeitung des empirisch Gegebenen und der jeweiligen Funktionszusammenh?nge geleistet werden kann. In diesem Fall fiele man in den skizzierten Sein-Sollens-Fehlschluss zurück.

Das hier zugrunde gelegte Verst?ndnis von Ethik grenzt sich mithin auch gegen jede Aufl?sung der Ethik in eine andere Wissenschaft bzw. ein nicht-normatives Ethikverst?ndnis ab. Solche Aufl?sungen sich durchaus g?ngig: Sei es, dass man mit Niklas Luhmann moralische Normativit?t als Epiph?nomen der Selbststabilisierung von Systemprozessen versteht, Moral und Sittlichkeit mit der Soziobiologie als mehr oder weniger dürftige Verkleidung der Durchsetzung der eigenen Gene in den Konkurrenzverh?ltnissen der Selbstreproduktion (oder aber auch als Hilfsmittel hierfür) sieht und dergleichen mehr.26 Gemeinsam ist diesen und ?hnlichen Aufl?sungsformen, dass das spezifisch Moralische als funktionales Element innerhalb eines übergeordneten Zusammenhangs betrachtet wird, der dann als der eigentliche, alles Handeln ?in Wahrheit? begründende Zusammenhang gilt. In die N?he dieser Denkfigur ger?t auch die im Gefolge der ?lteren analytischen Philosophie entstandene analytische Ethik, die sich um eine Rekonstruktion moralischer Sprachformen bemüht. Die normative Begründungsreflexion der Ethik wird hier zugunsten einer nicht-normativen sprachphilosophischen und sprachwissenschaftlichen Rekonstruktion von Verwendungsweisen moralischer Begriffe und Aussagen sowie kommunikativer Bedeutungskonstruktion aufgegeben.27

Unbestreitbar sind all diese Betrachtungsweisen m?glich. Sie treffen auch durchaus Richtiges: Moral und Sittlichkeit eignet oftmals auch ein funktionaler Aspekt; das weiter oben bemühte Beispiel des Verzichts auf Unterschlagung zugunsten der Wahrung der Maximen Ehrlichkeit und Treue hat dies bereits vor Augen gestellt. Daher k?nnen konkrete Moralvorstellungen auch im Rahmen einer Strategie eingesetzt werden und dergleichen mehr. Entscheidend ist jedoch, dass die Reduktion der Ethik auf eine solche funktionale Analyse der Moral und Sittlichkeit das Moralische selbst preisgibt. Dies gilt ebenso für die Zurücknahme der ethischen Reflexion auf Sprachanalyse. Nicht die soziale, kommunikative Bedeutungskonstruktion, sondern die Struktur der Moralit?t begründet die moralische Geltung entsprechender Termini und S?tze. Aus ethischer Sicht sind daher alle sprachlichen Bedeutungskonstruktionen mit moralischem Anspruch einer ?berprüfung dieses Anspruchs in Letztorientierung an der Moralit?t selbst zu unterziehen. Ebenso sind alle m?glichen Funktionen von Moral und Sittlichkeit nochmals einer normativen Prüfung ihrer Legitimit?t, ihrer Vertr?glichkeit mit der selbst gerade nicht mehr funktional, sondern nur ethisch - in der Rekonstruktion der praktischen Vernunft, der moralischen Voraussetzungen diskursiver Kommunikation etc. - zu erarbeitenden Moralit?t zu unterwerfen.

Allerdings ist diese ethische Reflexion durchaus kulturspezifisch und hat sie einen benennbaren historischen Ort. Nicht zuletzt die Debatte zwischen Rawls und den Kommunitariern bzw. der Diskussion um die Diskursethik hat dies letzthin wieder deutlich bewusst werden lassen.28 Die Herausarbeitung der Struktur der Moralit?t verdankt sich in hinreichender Klarheit eben nicht schon Aristoteles oder Thomas von Aquin, sondern erst Kant. Und sie findet sich im abendl?ndisch-westlichen Kulturkreis. Diese - mit den Kommunitariern gesprochen - Kontextualit?t nimmt dem hier skizzierten Ethikverst?ndnis jedoch nicht seine Gültigkeit. Zwar setzt die Entdeckung dieses Verst?ndnisses zweierlei voraus: Eine Gewichtung der menschlichen Vernunft und der menschlichen Freiheit als zentrale Elemente des menschlichen Selbstverst?ndnisses. Dies war die Leistung der Aufkl?rung auf einem vom Christentum impr?gnierten geistigen Boden.

Doch unabh?ngig von dieser historisch-kulturell konstellierten Gewichtung ist dieses Ethikverst?ndnis zumindest als untrennbar mit Vernunft und Freiheit verbundenes erweisbar. Da Menschen nicht nicht Vernunft besitzen und nicht nicht zu freien Selbstvollzügen bef?higt sind, erscheint dieses Ethikverst?ndnis au?erdem mit einer nicht geringen Chance auf kulturunabh?ngige Richtigkeit ausgestattet - wie immer Menschen auch mit ihrem Vernunftverm?gen und ihrer Freiheit verfahren, welchen Stellenwert sie auch immer diesen bei ihrer Selbstdeutung und Lebensorganisation kulturspezifisch einr?umen m?gen. Als empirischer Hinweis darauf kann gelten, dass die Goldene Regel, die eine Rudiment?rform der Universalisierbarkeit und Gleichachtung enth?lt29, seit der ?Achsenzeit? in allen Hochkulturen verbreitet ist. Mit Blick in die abendl?ndische Ethikgeschichte lie?e sich zudem zeigen, dass eine auf Vernunft gestützte Ethik auch erst dort stimmig und schlüssig wird, wo sie zur skizzierten Struktur der Moralit?t vordringt.29 (Dies gilt im übrigen nicht anders für zeitgen?ssische konkurrierende Ethikentwürfe wie den Utilitarismus.30)

Ob das skizzierte Verst?ndnis freilich faktisch kulturübergreifend Anerkennung findet oder finden wird, ist eine g?nzlich andere Frage. Sie muss hier nicht gekl?rt werden - zumal sich die vorliegenden ?berlegungen an eine Kultur und Gesellschaft wenden, für die das skizzierte Ethikverst?ndnis kaum v?llig unplausibel sein dürfte.

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4. Die Struktur ethischer Argumentation

Wie kommt nun aber die Ethik zu konkreten Aussagen? Schon weiter oben wurde angedeutet, dass die Ethik hierzu weiterer Best?nde bedarf, die auch den Analysen und Reflexionen der theoretischen Vernunft - also des Gebrauchs der Vernunft zur Erarbeitung von Theorien, systematischen Einsichten in das, was etwas ist und wie etwas funktioniert - entstammen. Ebenfalls angedeutet wurde bereits, dass ethische Argumentation nicht ohne Rekurs auf Anthropologie auszukommen vermag. Gleichzeitig sind die jeweiligen Begründungsleistungen der verschiedenen herangezogenen Einsichtsbest?nde unterschiedlicher Natur, Bedeutung und Kraft. Daher erscheint es sinnvoll, die allgemeine Struktur der ethischen Argumentation - bezüglich welcher ich freilich wiederum davon überzeugt bin, dass es zugleich die Struktur ethischen Argumentierens überhaupt ist - gegliedert vor Augen zu stellen.

Bei der Erarbeitung der Struktur der Moralit?t ist bereits spürbar geworden, dass diese normativen Charakter hat: Wenn etwas als moralisch gelten k?nnen soll, muss es dieser Struktur entsprechen. Wann immer wir wissen wollen, ob das, was uns als zu tun n?tig erscheint, moralisch ist, überprüfen wir im letzten deshalb die Regel (Norm, Maxime, den Imperativ) unseres Handelns daraufhin, ob sie (oder er) mit dieser Struktur übereinstimmt. Diese Struktur ist dabei oben mit den beiden Kernmomenten der Universalisierbarkeit und Gleichachtung umrissen worden.

Wir wollen die Struktur, die uns die Moralit?t vor Augen bringt, weil sie zugleich die oberste Norm für unser moralisches Handeln ist, nun das Moralprinzip (bzw. mit Kant: das moralische Gesetz) nennen. Es ist jenes oberste Prinzip (bzw. Gesetz), das bestimmt, was überhaupt als moralisch gelten kann und an dem sich unser moralisches Handeln immer orientieren muss. Gleichzeitig wollen wir dies nun in eine ausdrückliche Form bringen. Hierzu orientieren wir uns, wie implizit auch schon weiter oben, an Kant und der Diskursethik. Das Moralprinzip soll daher in einer ersten Formulierung lauten: "Handle so, dass die Maxime Deines Handelns Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein und die Zustimmung aller von dieser Maxime und ihrer Befolgung Betroffenen als Vernunft- und Freiheitswesen finden k?nnte."32 Um den darin implizit beschlossenen Aspekt der Gleichachtung und der Orientierung an der Menschenwürde explizit werden zu lassen, stellen wir dieser Formulierung gleichberechtigt eine zweite zur Seite: "Handle so, dass Du Dich selbst und andere Menschen niemals nur als Mittel gebrauchst, sondern stets auch die Selbstzwecklichkeit des Menschen, seinen Charakter als freies, zu einem selbstbestimmten Lebensvollzug berechtigtes Subjekt achtest."33

In diesem Moralprinzip lassen sich dabei verschiedene moralische Einzelprinzipien aufdecken, die in der ethischen Diskussion immer wieder eine Rolle spielen. So impliziert das Moralprinzip etwa die moralischen Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde etc. Das Moralprinzip bzw. moralische Gesetz wie auch die auf dieser Ebene implizierten moralischen Einzelprinzipien sind jedoch noch sehr formaler Natur. Sie dienen der ?berprüfung konkreter moralischer Einsichten und bilden so die Ebene der eigentlich ethischen Begründung bzw. der moralischen Letztbegründung, hinter die nicht weiter zurückgegangen werden kann. Um konkrete, inhaltliche moralische Forderungen aufstellen zu k?nnen, ben?tigt die Ethik jedoch noch mehr. Sie ben?tigt eine Ebene, auf der sich materiale und dennoch universalisierbare Einsichten ansiedeln lassen, die eine Brücke von der Formalit?t zur Inhaltlichkeit schlagen k?nnen.

Diese Ebene er?ffnen die Anthropologie und die Humanwissenschaften. Sie bieten theoretische Einsichten über den Menschen als Menschen an, die durchaus inhaltlich sind und dennoch eine Allgemeinheit besitzen, die ihre Gültigkeit im Sinn der Konsensf?higkeit unterstellen l?sst. So l?sst sich hier n?heres darüber sagen, wie die Leibhaftigkeit des Menschen genauer beschaffen ist, was unter der Unversehrtheit des Leibes und der Psyche zu verstehen ist, welche physischen Grundbedürfnisse der Mensch hat, wie es um seine geistigen und kulturellen Bedürfnisse bestellt ist etc. Auf dieser Ebene materialer Universalisierbarkeit ist damit ein Grundbild des Menschen - also das, was in den popul?ren politischen Diskursen immer wieder gerne als "Menschenbild" bemüht wird - zu gewinnen. Ernst Tugendhat hat darauf aufmerksam gemacht, dass erst im Rahmen einer solchen st?rker inhaltlichen Reflexion Begriffe wie Gesundheit, die genannte Unversehrtheit etc. gebildet werden k?nnen, die unverzichtbar sind, wenn (materiale) ethische Grundforderungen wie eben z.B. das Recht auf Leben und k?rperliche Unversehrtheit oder die Freiheit der Religionsübung (als kulturelles Freiheitsrecht) erarbeitet, begründet und fixiert werden sollen.34

Umgekehrt aber k?nnen nun vom Grundbild des Menschen ausgehend bzw. besser: mit Bezug auf dieses allgemeine moralische Grundmaximen erstellt werden, die stets als verpflichtend gelten und als materiale ?berprüfungsinstanz für spezifischere moralische Forderungen, Grenzziehungen und Rechte dienen.

Die Ebene materialer Universalisierbarkeit macht die eigentlich ethische Begründungsebene, die Ebene des Moralprinzips, des moralischen Gesetzes, jedoch nicht überflüssig. Nicht aus der Leibhaftigkeit des Menschen geht z.B. das Recht auf k?rperliche Unversehrtheit hervor, sondern aus der Reflexion dieser Leibhaftigkeit unter dem Moralprinzip, das dann die eigentlich ethische Begründung dieses Rechts liefert. Deutlich wird gleichwohl auch, dass die theoretische Einsicht in die Leibhaftigkeit des Menschen Anteil an der Begründung des moralischen Rechts auf k?rperliche Unversehrtheit hat. Dieser Anteil ist durchaus gewichtig - ist die theoretische Einsicht falsch, so wird das unter ihrer Beiziehung entworfene Recht auch nicht mehr als moralisch zu bewerten sein. Sachliche Irrtümer n?mlich haben Auswirkungen auf diejenigen, die von unter Verwendung dieser Irrtümer verfertigten normativen Gr??en betroffen sind. Beg?be sich also z.B. jemand in den Irrtum, die Leibhaftigkeit des Menschen erstrecke sich nicht auf dessen Beine, so ist sehr wahrscheinlich mit Widerspruch der Betroffenen zu rechnen, deren Beine unter dieser falschen Theorie zu leiden haben. Sachliche Irrtümer werden auf der Ebene der mit ihnen verfertigten moralischen Direktiven zugleich zu moralischen Irrtümern.

Gleichzeitig aber gilt bereits für die Ebene materialer Universalisierbarkeit, dass deren Best?nde nicht vollst?ndig jenseits geschichtlicher Ver?nderung liegen. Materiale theoretische Einsichten k?nnen sich erweitern, modifizieren, differenzieren, bedingungsabh?ngig wandeln und dergleichen mehr. Daher ist auch die Debatte um den moralischen Grundkonsens einer Gesellschaft - der auf dieser Ebene, nicht einfach nur auf der Ebene des moralischen Gesetzes anzusiedeln ist - kaum jemals endgültig abschlie?bar. Trotzdem ist mit der Ebene materialer Universalisierbarkeit und den hier begründbaren Grundmaximen immerhin eine gewisse Unbeliebigkeit und Stabilit?t erreicht, die die Grundmaximen als Kernbest?nde eines gesellschaftlichen Rahmenethos bzw. gesellschaftlicher Sittlichkeit empfehlen. Dieses bildet zugleich die materialethische Begründungsbasis für die Rechtssetzung.

Unterhalb der Ebene der Grundmaximen lassen sich nun noch zwei weitere Ebenen einziehen. Um für bestimmte Bereiche zu allgemeinen ethisch begründeten Ma?gaben zu gelangen, ist es wiederum erforderlich, die Sachgesetzlichkeiten dieser Bereiche theoretisch zu erheben. Mit Bezug zu den Grundmaximen (und im letzten zum Moralprinzip bzw. moralischen Gesetz) k?nnen dann für diese Bereiche moralische Handlungsregeln erarbeitet werden. Handlungsregeln zeichnen sich also dadurch aus, dass sie spezifischer sind als Grundmaximen, jedoch immer noch relativ allgemein. Erst unter Reflexion der jeweiligen situationsspezifischen Bedingungen vermag man daher zu konkreten, situationellen Handlungsanweisungen zu gelangen, die wir situationsspezifische Imperative nennen wollen. Je konkreter die moralische Regelung wird, je spezifischer sie ausf?llt, desto gr??er ist ihre Bedingtheit. Daher nimmt auch die Relativit?t, Pluralit?t und geschichtliche Wandelbarkeit von moralischen Vorschriften mit je gr??erer Konkretheit und Spezifit?t zu.

Die Struktur ethischer Argumentation aber ist damit gegliedert. Die eigentlich ethische Begründung erfolgt stets durch das Moralprinzip bzw. moralische Gesetz. Doch nehmen an dieser Begründung theoretische Einsichten in das, was etwas ist und wie etwas funktioniert, Anteil. Dieser Gesichtspunkt ist zudem zu erg?nzen: Auch Ergebnisse einer pragmatischen und eudaimonistisch orientierten Reflexion tragen zur jeweiligen konkreten Normfindung bei. Welche Mittel zur Erreichung eines Ziels verwendet werden, ist keineswegs irrelevant für die Konstruktion moralischer Direktiven. Ebenso ist, wie schon weiter oben vermerkt, auch die Reflexion auf die konkreten Glücks- und Gelingensvorstellungen der Menschen in die Normierung einzubeziehen. Je allgemeiner die Normierungsebene, desto indirekter allerdings sind diese relevant. So sind Elemente eudaimonistischer Reflexion z.B. für das Grundbild des Menschseins lediglich insoweit bedeutsam, als via Anthropologie und Humanwissenschaften Bedingungen angegeben werden k?nnen, die unverzichtbar sind, wenn Menschen ihre Gelingensvorstellungen in einem freien Selbstentwurf hervorbringen und verfolgen k?nnen sollen (also z.B. Gesundheit).

Die skizzierte Struktur aber kann nun in einem Schaubild nochmals zusammengefasst werden. Die Begründungsrelation ist dabei nicht als Ableitungsrelation zu verstehen, sondern als Relation, in der von der jeweils niedrigeren Ebene auf die darüber liegende zurückgegangen und die Vertr?glichkeit mit dieser überprüft wird.

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Moralprinzip
(moralisches Gesetz)
Transzendentalphilosophisch, diskurs-, gerechtigkeitstheoretisch etx. erweisbar

begründet

oberste moralische Prinzipien
Formal, universalisierbar (Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde etc.)

zusammen mit

Anthropologie und Humanwissenschaften
Empirisch vermittelte, theoretische, pragmatisch und eudaimonistisch relevante Einsichten (Leibgebundenheit, physische und psychische Bedürfnisse etc.)

begründen

Grundbild des Menschseins
Materiale Universalisierbarkeit

begründet

materiale Grundmaximen
Rahmenethos (Menschenrechte, Grundrechte etc.)

zusammen mit

Sachgesetzlichkeiten, pragmatischen und eudaimonistischen Einsichten
Empirisch vermittelte, theoretische EinsichtenPragmatische Mittel-Zweck-Reflexion, Gelingensvorstellungen

begründen

Handlungsregeln
Allgemeine Imperative

zusammen mit

situationsspezifischen Bedingungen

begründen

situationsspezifische Imperative
spezielle Imperative

?


? Thomas Hausmanninger 2000


  1. Zu einer solchen Begründungsfigur neigt die katholische Neuscholastik des 19. Jahrhunderts, die zudem metaphysisch argumentiert. Vom Menschenbild ist auch h?ufig in rechtskonservativen politischen Kreisen die Rede, in der Regel mit Berufung auf die (allerdings meist verwaschen bleibende) "Christlichkeit" dieses Bildes.
  2. Vgl. Hume, D.: A Treatise of Human Nature, Oxford 21978, III,I.1, 469.
  3. Vgl. zur Physiozentrik etwa: Meyer-Abich, K.-M.: Praktische Naturphilosophie, München 1997; zur Biozentrik: Altner, G.: Naturvergessenheit, Darmstadt 1991; zur Auseinandersetzung damit auch: Hausmanninger, Th.: Bedarf die Bew?ltigung der ?kologischen Krise einer Neuen Ethik?, in: Gruber, H.-G., Hintersberger, B. (Hg.): Das Wagnis der Freiheit, Würzburg 1999, 354-372.
  4. Vgl. dazu überblickshaft etwa: Honneth, A. (Hg.): Kommunitarismus, Frankfurt/New York 1993.
  5. Vgl. MacIntyre, A.: After Virtue, London 61994; MacIntyre, A.: Three Rival Versions of Moral Enquiry, Notre Dame/Indiana 1990.
  6. Auch wenn man weitere funktionale Belange hinzunimmt, greift man noch immer zu kurz und daneben - der wirklich bestimmende Bezugspunkt, n?mlich dass Ehrlichkeit und Treue Konkretionen der Achtung der unbedingten Würde des Menschen sind, bleibt so lange ausgeblendet, als die Reflexion auf Funktionalit?t nicht überschritten und das Praxisverh?ltnis von Vernunft- und Freiheitswesen zueinander in Blick genommen wird. (Zu diesem Verh?ltnis mehr unten.)
  7. Vgl. Taylor, Ch.: Sources of the Self, Cambridge 1989.
  8. Vgl. dazu auch; Hausmanninger, Th.: Solidarit?t und Kommunitarismus, in: ThdG 1998/1, 2-13.
  9. Kant formuliert freilich etwas anders: Die Maxime meines Handelns muss so beschaffen sein, dass sie allgemeines Gesetz werden k?nnte (vgl. etwa: Kant, I.: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke [ed. Weischedel] VII, Frankfurt 21978, 7-102, hier 51 [BA 52]). Allerdings lesen wir über die Gesetze wiederum, dass diese solche nur sein k?nnen, wenn sie "aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes [...] entspringen" k?nnten (Kant, I.: ?ber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Kant, I.: Werke (ed. Weischedel) XI, Frankfurt 21978, 125-172, hier 150 [A 244], 153 [A 250]). Der Wille ist die Kraft der Zustimmung und Zustimmungsverweigerung bzw. Ablehnung. Auch wenn Kant bei seiner Universalisierungsformel sicher in erster Linie die Widerspruchsfreiheit der moralisch-praktischen Vernunft im Sinn hatte und darin die Verallgemeinerbarkeit fundiert sehen wollte, steht es deshalb wohl nicht gegen seinen Entwurf, in seiner Universalisierbarkeitsforderung (mit der Diskursethik im Rücken, die auf die Zustimmung durch die Betroffenen zielt) auch die Zustimmungsf?higkeit beschlossen zu sehen. - Selbstzwecklichkeit wiederum geht zweifelsohne nicht in Gleichachtung auf (vgl. zur Formel etwa: Kant, GMS 61 [BA 67]). Sie impliziert jedoch diese Gleichachtung, denn eben darin, dass ich den anderen Menschen nicht blo? als Mittel gebrauche, sondern als Zweck an sich selbst zu respektiere, messe ich ihm denselben Status zu, den ich für mich selbst in Anspruch nehme. Daher kann man sagen, dass der Aspekt der Gleichachtung in der Selbstzwecklichkeitsformel mit beschlossen liege.
  10. Vgl. Apel, K.-O.: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders.. Transformation der Philosophie 2, Frankfurt 1976, 358-436; Apel, K.-O.: Diskurs und Verantwortung, Frankfurt 1990; Habermas, J.: Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983, 53-126; Habermas, J.: Erl?uterungen zur Dikursethik, Frankfurt 1991.
  11. Vgl. Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 51990.
  12. Kant setzt bekanntlich mit der Zweiheit von Vernunft- und Sinnenwesen an: Weil der Mensch nicht reines Vernunftwesen ist, ist auch sein Wille nicht immer nur von der Vernunft bestimmt. Daher k?nnen die dem Menschen als Sinnenwesen eigenen ?Neigungen? in Widerspruch zum Spruch der Vernunft geraten. Der Spruch der Vernunft erh?lt deshalb für den Menschen die Gestalt des Sollens (vgl. Kant, GMS 42 [BA 38f]). Gleichzeitig besteht Kant darauf, dass der Mensch keineswegs grunds?tzlich gezwungen ist, sich den Neigungen gem?? zu verhalten, sondern dem Spruch der Vernunft durchaus zu folgen vermag (vgl. etwa: Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke [ed. Weischedel] III-IV, Frankfurt 21978, 675 [A 802, B 830]). Basis für diese M?glichkeit ist nicht nur die Vernunft, sondern die (transzendental aufweisbare) Freiheit. Sie besteht eben darin, als Vernunftwesen sich selbst Gesetz zu sein und unabh?ngig von den empirisch-sinnlichen Affizierungen und N?tigungen diesem Gesetz gem?? handeln zu k?nnen (auch dieses K?nnen versteht sich nicht rein empirisch, sondern als Denknotwendigkeit - um sogleich dem Einwand entgegenzutreten, seit Siegmund Freud sei die kantische Ethik falsifiziert, da sie die Bestimmtheit des Menschen durch sein Unbewusstes übergehe). Bei Kant ist Freiheit daher Autonomie und als ?Freiheit von etwas? in Gestalt der Freiheit von den Neigungen und der Naturkausalit?t gedacht (vgl. etwa: Kant, GMS 88f [BA 109]). Man kann dies ebenso in die andere Richtung wenden: Die Freiheit als M?glichkeitsbedingung selbstbestimmten Handelns ist gleichfalls beim Versto? gegen den Spruch der Vernunft wirksam (auch wenn Kant die in diesem Fall erfolgende Bestimmung des Willens durch die Neigungen als ?pathologische? Bestimmtheit - im Sinn des Erleidens - bewertet und darin so etwas wie eine im Wortsinn perverse Selbstunterwerfung des Menschen unter die Naturkausalit?t zu sehen scheint), jedoch sozusagen in unvernünftiger Weise genützt (n?mlich um diese Unterwerfung unter die Neigungen bewusst zu vollziehen - und darin freilich, gewisserma?en im Anschluss an diese Nutzung, die Freiheit aufzugeben). ?berlegungen zu diesem Gebrauch (bzw, Missbrauch) der transzendentalen Freiheit finden sich bei Kant in seinen Reflexionen über das B?se, insbesondere das radikal B?se (vgl. Kant, I.: Die Religion innerhalb der Grenzen der blo?en Vernunft, in: ders.: Werke [ed. Weischedel] VIII, Frankfurt 21978, 645-879, hier 688-694 [B 39-48; A 36-45]). Dort kommt Kant einem Willensfreiheitsbegriff nahe, wie ihn Augustinus verwendet. Von dieser Betrachtung her aber ist die Basis des Sollens letztlich eine Freiheit, die zugleich die Freiheit zur Widersetzlichkeit gegen die Vernunft einschlie?t.
  13. Kant, GMS 68 [BA 78].
  14. Vgl. dazu etwa: Luhmann, N.: Zweckbegriff und Systemrationalit?t, Frankfurt 51991, 120, 168f, 197f, 236-256.
  15. Vgl. Luhmann, Zweckrationalit?t 236: "Die funktionale Analyse dient also bei theoretischer Orientierung dem Vergleichen; bei praktischer Orientierung er?ffnet sie M?glichkeiten der Substitution, des Austausches gleichwertiger Leistungen. Damit ist keine Feststellung von Seinsqualit?ten verbunden, [...] wohl aber, dass alles [...] auf die Ersetzbarkeit hin geprüft werden kann und seine Unersetzlichkeit gegebenenfalls begründen muss."
  16. Eben darin besteht die oben von Luhmann geforderte Begründung: Vernunft- und Freiheitswesen lassen sich nicht auf ihre Funktionalit?ten reduzieren. Blo? funktional betrachtet, sind sie nicht zureichend betrachtet. Hierin liegt zudem ein grunds?tzlicher Einwand gegen die Systemtheorie Luhmanns, der die Subjekthaftigkeit des Menschen in den Begriff des personalen Systems aufl?st.
  17. Vgl. Kant, GMS 43ff, 57f, 75-80 [BA 40ff, 61f, 88-96].
  18. Vgl. Habermas, J.: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: ders.: Erl?uterungen 100-118. Habermas bedient sich dabei bei Kant (vgl. Kant, GMS 46 [BA 44], Habermas, Gebrauch 102). Wo Kant technische Imperative, die sich auf Regeln der Geschicklichkeit bzw. Kunstfertigkeit stützen, von pragmatischen Imperativen unterscheidet, die unter dem Prinzip der Wohlfahrt stehen, subsumiert Habermas jedoch beides unter Zweckrationalit?t und nennt dies dann den pragmatischen Gebrauch der praktischen Vernunft.
  19. Man k?nnte ebenso gut jedoch von einem funktionalen oder instrumentellen Gebrauch sprechen, denn praktische Vernunft sucht hier nach der funktionalen Eignung von Mitteln für Zwecke, also nach geeigneten Instrumenten zu deren Erreichung, und sie verwendet sich selbst dabei als Instrument zu eben dieser Auffindung. Gleichwohl soll hier der Begriff der funktionalen Vernunft für die theoretische Beschreibung der Funktionalit?t von etwas reserviert bleiben, also einen Modus des theoretischen Vernunftgebrauchs benennen. Der Begriff der instrumentellen Vernunft wiederum ist so sehr mit der Kritischen Theorie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verbunden, dass er zur Vermeidung fehlgehender Assoziationen nicht für das genannte Ph?nomen verwendet werden soll.
  20. Vgl. Habermas, Gebrauch 103-107.
  21. Vgl. Kant, KrV, 676-687 [B 832-847, A 804-819]; Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Werke (ed. Weischedel) VII, Frankfurt 21978, 103-302, hier 237f [A 197f]; Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke (ed. Weischedel) VIII, Frankfurt 21978, 303-634, hier 517f [Tugendlehre A 16-18]. Die Lehre Kants vom h?chsten Gut enth?lt bekanntlich Widersprüchlichkeiten. L?sbar sind diese wohl nur, wenn man das Glücksverlangen des Menschen als Verlangen nach umfassender Selbstrealisation und diese wiederum unter Einbezug des Strebeverm?gens - bei Kant Quellort der Neigungen und der Glücksbedürfnisse - ganzheitlich denkt. Es ginge also darum, die Realit?t des Vernunft- und Freiheitswesens als strebe- und entwicklungsf?higes sowie leibhaftes Wesen in den Reflexionsgang konstitutiv einzubeziehen - und gegen die kantische Tendenz zur Diskriminierung der Neigungen die aristotelischen Einsichten zum Glücksstreben und das Leibapriori (K.-O. Apel) konstruktiv weiterzuentwickeln. Die Selbstn?tigung des Menschen durch seine Moralit?t reicht dann über die abstrakte Verwirklichung des ihm immanenten Vernunftwesens als vollst?ndig dem moralischen Gesetz gehorchenden Wesen hinaus: Sie n?tigt dazu, universalisierbare Bedingungen für die Selbstverwirklichung des ganzen Menschen zu schaffen und darin die Selbstzwecklichkeit nicht nur des Vernunftwesens, sondern des im Sinnenwesen realisierten Vernunftwesens zu respektieren. Vollst?ndig ist diese Respektierung der Selbstzwecklichkeit also erst, wenn die vollst?ndige Selbstrealisierung des ganzen Menschen gew?hrleistet wird. Dies jedoch schlie?t seine Glückseligkeit als Zustand, in dem alles nach Wunsch und Willen geht bzw. die umfassendste Annehmlichkeit des Daseins durch Befriedigung all unserer Neigungen erreicht wird (vgl. Kant, KpV 129 [A 41]; Kant, KrV 677 [A 806]) - oder besser formuliert: in dem sich der ganze Mensch mit all seinen Sehnsüchten, M?glichkeiten und F?higkeiten realisieren kann und deshalb glückselig ist - ein. Insofern also dann erst der Selbstzwecklichkeit des Menschen genüge getan wird, n?tigt die diese Selbstzwecklichkeit implizierende Moralit?t zum Denken des h?chsten Gutes.
  22. Ein gut fasslicher ?berblick zu diesem Begriff findet sich bei: Taylor, Ch.: Hegel, Frankfurt 21993, 477-604, bes. 492-495.
  23. Die Differenzierung hat eine Tradition im Rücken, die bis in die Antike zurückreicht: Die sozialethische Frage n?mlich wird im Rahmen dessen verhandelt, was Aristoteles als "Politik" bezeichnet, w?hrend die individualethische Frage in der "Ethik" oder Moralphilosophie thematisiert ist.
  24. Der Begriff der Sozialethik unterscheidet sich daher fundamental von dem im rechtlichen und rechtsanalogen Kontext der institutionalisierten Kommunikationskontrolle der Bundesrepublik gebrauchten Adjektiv der "sozialethischen Desorientierung" (etwa im Prüfkriterienkatalog der Bundesprüfstelle für jugendgef?hrdende Schriften). Gemeint ist dort, dass das soziale Verhalten von Personen, ihr Handeln gegenüber und innerhalb einer Gruppe sowie der Gesellschaft als ganzer, das Auswirkungen auf eben diese Gruppe und Gesellschaft hat, fehlgehen k?nne. Angemerkt sei schon an dieser Stelle, dass dieses Adjektiv sehr ungünstig gew?hlt ist. Der Begriff der Sozialethik hat eine reiche Tradition innerhalb der theologischen Ethik und benennt zudem die entsprechende wissenschaftliche Disziplin innerhalb der Universit?t. Dabei meint er stets das oben im Text Skizzierte, kaum jedoch das, was das genannte Adjektiv anzielt. Darüber hinaus ist in diesem Adjektiv wiederum das Partikel "ethisch" sehr unglücklich verwendet - gemeint ist eigentlich "ethosspezifisch" oder schlicht "moralisch".
  25. Zum Lebenswelt- und Systembegriff vgl.: Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns 2, Frankfurt 1981, 171-293; zum hier akzentuierten Verst?ndnis auch: Hausmanninger, Th.: Sozialethik als Strukturenethik, in: H?hn, H.-J. (Hg.): Christliche Sozialethik interdisziplin?r, Paderborn 1997, 59-88, hier 66-73.
  26. Vgl. dazu etwa: Luhmann, N.: ?kologische Kommunikation, Opladen 31990; Luhmann, N.: Paradigm lost: ?ber die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt 1990; Dawkins, R.: Der blinde Uhrmacher, München 1987; Wickler, W., Seibt, U.: Das Prinzip Eigennutz, München 31991.
  27. Vgl. etwa: Stevenson, C.L.: Ethics and Language, New Haven 1944; Hare, R.M.: Die Sprache der Moral, Frankfurt 1983; Baier, K.: The Moral Point of View, Ithaca 1958. Als ?berblick; Grewendorf, G., Meggle, G. (Hg.): Seminar: Sprache und Ethik, Frankfurt 1974.
  28. Vgl. Honneth, Kommunitarismus; Kuhlmann, W. (Hg.): Moralit?t und Sittlichkeit, Frankfurt 1986; Habermas, Erl?uterungen.
  29. Vgl. dazu auch: Reiner, H.: Die Grundlagen der Sittlichkeit, Meisenheim am Glan 1974, 348-379.
  30. Hier ist nicht der Ort, um dies auszuführen. Jedoch sei eine Andeutung zumindest gegeben: Aristoteles führt zwar bereits die Differenzierung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ein, doch bleibt die praktische Vernunft bei ihm leer. Ihre Struktur (und damit Moralit?t) wird nicht erarbeitet. Folge ist, dass Aristoteles sich in einen Begründungszirkel verwickelt, der das Moralische einerseits der praktischen Vernunft als vorschreibender Instanz zumisst, dann jedoch andererseits diese Vernunft zu ihrer eigenen Information auf ein bereits tugendhaftes, d.h. moralisch formiertes Strebeverm?gen zurückgreifen lassen muss (vgl. zum Begründungszirkel auch: Seif, K.-Ph.: Das Problem der Willensfreiheit in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, in: PhTh 54/1979, 542-581). Verschiedene Ausstiegsversuche - in die Anthropologie, die lebensweltliche Kontextualit?t etc. - verwickeln sich hingegen in eine Ableitung des Moralischen aus kontingenten Best?nden und den Sein-Sollens-Fehlschluss. Thomas von Aquin kommt demgegenüber bereits einen Schritt weiter, wenn er im Rahmen seines Gesetzestraktats (Sth I-II 90-105) in der praktischen Vernunft eine Art moralisches Grundgesetz ausmacht. Doch bleibt dieses wiederum als Bestimmung, das Gute zu tun und das B?se zu lassen, so allgemein, dass es "gleichsam leer" erscheint (Honnefelder, L.: Die ethische Rationalit?t des mittelalterlichen Naturrechts, in: Schluchter, W. [Hg.]: Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums, Frankfurt 1988, 254-275, hier 260). Was denn das Gute sei, das zu tun ist, kann mit diesem Gesetz der praktischen Vernunft nicht eruiert werden. Die moral-sense-Philosophie wiederum begibt sich mit ihrer Suche nach einem moralbegründenden Grundantrieb oder einem ursprünglichen moralischen Gefühl bzw. Empfinden in den Dunstkreis des Sein-Sollens-Fehlschlusses. Wo sie, wie bei F. Hutcheson, (pr?-)utilitaristische Züge annimmt, hingegen begibt sie sich auf den Weg zum Universalisierungsprinzip und darin beschlossener Gleichheit. Sobald also eine ?berwindung der Begründungsprobleme in Blick zu kommen beginnt, kommt zugleich die bei Kant erstmals bündig auf den Begriff gebrachte Struktur der Moralit?t in Blick.
  31. Vgl. dazu: H?ffe, O.: Sittlich-politische Diskurse, Frankfurt 1981, 53-65; H?ffe, O.: Moral als Preis der Moderne, Frankfurt 1993, 214f.
  32. Die Formulierung ist nicht als Tautologie zu verstehen: Mit der Nennung der allgemeinen Gesetzgebung soll das Erfordernis der Widerspruchsfreiheit, der Konsistenz und Koh?renz praktischer Maximen, mit der Nennung der Zustimmungsf?higkeit sowohl der Aspekt allgemeiner Willensbildung als auch der Umfang der Zustimmungserforderlichkeit akzentuiert werden. Den Betroffenen wird die Spezifizierung als Vernunft- und Freiheitswesen an die Seite gestellt, um deutlich zu machen, dass nicht einfach nur empirische Individuen mit ihrer ebenfalls empirischen Willkür gemeint sind. Im Blick steht der transzendentale Charakter des Menschen, seine Subjekthaftigkeit, die Kant mit dem Wort der "Menschheit" in der Selbstzwecklichkeitsformel fasst.
  33. Wie bei Kant soll mit dem Wort "auch" darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir uns selbst und andere freilich auch immer wieder als Mittel gebrauchen, uns einander zunutze machen. Wichtig ist jedoch, dass hierbei die Würde des Menschen, die je eigene wie die des oder der anderen, die in der freien Selbstbestimmung ruht, nie verletzt wird, also die spezifische Art und Weise wechselseitigen Gebrauchens nie in der v?lligen Verdinglichung endet, sondern stets mit Respekt und in Gleichachtung geschieht. Dies schlie?t daher die stets bestehende Zustimmungsbedürftigkeit allen Gebrauchens durch den gebrauchten Menschen und die Freiheit, sich diesem Gebrauch gegebenenfalls zu entziehen, unaufgebbar ein.
  34. Vgl. Tugendhat, E.: Antike und moderne Ethik, in: ders.: Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, 33-56. Tugendhat spricht allerdings immer noch von formalen Begriffen der Gesundheit, physischen und psychischen Unversehrtheit etc. Die Differenz von formal und material ist nun freilich stets mit gewissen Unsch?rfen behaftet. Gegenüber der Formalit?t des Moralprinzips erscheint mir die Konstruktion des Rechts auf Leben und k?rperliche Unversehrtheit oder die Bestimmung dessen, was psychologisch als psychische Unversehrtheit zu betrachten ist (Freud sah diese im der Arbeits- und Genussf?higkeit, Bestimmungen, die eine ganze Reihe konkretisierender, inhaltlicher ?berlegungen voraussetzen) jedenfalls erheblich materialer.

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