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Thomas Hausmanninger


Ursprünglich erschienen in: Theologie der Gegenwart 1998/1, 2-13

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Die Wiedervereinigung Deutschlands wird in den letzten Jahren aus ostdeutscher Perspektive oft nicht nur als Erringung von Freiheit, sondern auch als Eintritt in einen Raum sozialer K?lte und eines beziehungslosen Nebeneinanders beschrieben. Vermi?t werden Gemeinsinn und sozialer Zusammenhalt, oder anders gesagt: Solidarit?t und solidarisches Bewu?tsein. Dieses Defizit gilt dabei als typisch für den Westen.1 Obwohl man nun diesen Vorwurf als spezifisches Element der deutsch-deutschen Problematik betrachten k?nnte, scheint er ein Empfinden auszudrücken, das auch andernorts nicht unbekannt ist: Seit den frühen 80er Jahren gibt es in den USA unter dem Titel "Kommunitarismusdebatte" eine intensive Diskussion über das Schicksal des Gemeinsinns, eines Bewu?tseins der Gemeinschaftsverpflichtung in der Moderne.2 Obwohl der Begriff Solidarit?t kaum benutzt wird, geht es darin letztlich auch um diese, bzw. genauer: um die Frage, ob und wie moderne demokratische Gesellschaften zugleich solidarische Gemeinschaften sein k?nnen. Ich will im folgenden daher zun?chst einige Elemente dieser Debatte nachzeichnen, um dann in kritischer Auseinandersetzung damit aus der Perspektive der christlichen Sozialethik der Frage nachzugehen, wie für die demokratische Gesellschaft Solidarit?t m?glich ist.

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1. Die Kommunitarismusdebatte und das Problem gesellschaftlicher Solidarit?t

Die Kommunitarismusdebatte hat sich an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls entzündet.3 Rawls vertritt einen vernunft- und prinzipienethischen Ansatz, der moralisches Handeln als vernunftbegründetes Handeln freier autonomer Subjekte versteht. Mit dem autonomen Subjekt ist gemeint, da? der Mensch Vernunft- und Freiheitswesen ist, das über eine unverbrüchliche Würde verfügt und die F?higkeit zum moralischen Selbstvollzug in sich tr?gt. Eine Vernunft- und Prinzipienethik versucht dann die allgemeinen Prinzipien und Grunds?tze der Logik der Praxis solcher Subjekte herauszuarbeiten. Wie die Grammatik einer Sprache sind diese Prinzipien und Grunds?tze relativ formal, w?hrend konkrete, einzelne Moralvorstellungen erst in konkreten Situationen von den Subjekten selbst hervorgebracht werden. Ein solcher Ethikansatz gilt den Kommunitariern geradezu als typisch für die moderne Gesellschaft, die zusammen mit ihm kritisiert wird. Die Kommunitarismusdebatte sieht also einen Zusammenhang zwischen Ethikverst?ndnis und Gesellschaftsentwicklung in der Moderne und ist so auch eine Diskussion über die richtige Ethik.4

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Rawls fr?gt nun nach den ethisch-politischen Grunds?tzen einer Gesellschaftsorganisation, die sich am Subjektcharakter des Menschen orientiert. Er knüpft an Gedanken von Immanuel Kant, aber auch der Staatstheorien von Thomas Hobbes und John Locke an und erarbeitet zwei Gerechtigkeitsgrunds?tze. Die Begründungsfigur argumentiert damit, da? es sich hierbei um Grundregeln handelt, auf die sich Individuen verst?ndigen würden, die einerseits m?glichst ungehindert ihre Interessen verfolgen wollen und andererseits unparteilich den Rahmen für ihr künftiges Zusammenleben abstecken müssen. Der erste Grundsatz bestimmt, da? die Gesellschaftsordnung jedem Individuum Freiheitsrechte zuzumessen hat. Die Grenze der Freiheit soll erst dort gesetzt werden, wo die Freiheitsausübung des einen dieselbe Freiheitsausübung des anderen verhindert.5 Da aus dem Freiheitsgebrauch jedoch auch Ungleichheit entsteht und zudem de facto Menschen nie die gleichen Ausgangschancen - Fertigkeiten, Begabungen, Talente etc. - haben, erscheint ein zweiter, von Rawls als Differenzprinzip bezeichneter Grundsatz n?tig. Dieser bestimmt vor allem, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu gestalten, da? sie immer noch zum Vorteil jedes einzelnen, also auch des weniger gut Gestellten, dienen.6 Im gro?en und ganzen ist es ein Prinzip, das soziale Anspruchsrechte begründet. Aus ihm l??t sich beispielsweise die Forderung ableiten, ein soziales Netz einzurichten, das die St?rkeren für die Absicherung der Schw?cheren durch Umleitung von Profit in Dienst nimmt.

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Drei Elemente des Rawls?schen Entwurfs sehen die Kommunitarier als typische Momente der Moderne und modernen Gesellschaften: Zum einen das in der Begründungsargumentation verwendete Bild vom Individuum, das prim?r auf sich selbst und Verwirklichung seiner Interessen gerichtet ist. Michael Sandel nennt es das "ungebundene Selbst".7 Obwohl es Rawls nur als heuristische Fiktion einführt, die prim?r eine argumentationslogische Funktion hat,8 betrachten es die Kommunitarier geradezu als Leitbild, das das Selbstverst?ndnis des modernen Menschen pr?gt. Zu diesem Bild scheint die Vorstellung zu geh?ren, sich nur sich selbst zu verdanken, also nicht nur autonom, sondern im Kern autark zu sein, und sich voraussetzungslos entwerfen zu k?nnen. Zum zweiten sehen sie damit ein Freiheitskonzept verbunden, das Freiheit vorrangig als Abwesenheit von Hindernissen fa?t. Charles Taylor spricht von "negativer Freiheit".9 Diese hat in der Tat Tradition, wie er an Hobbes, Isiah Berlin und Jean-Paul Sartre zeigt.10 Ihr Kennzeichen ist, da? sie leer ist und selbst über ihre positive Verwirklichung nichts aussagt, sondern diese inhaltlich ganz dem ungebundenen Selbst überl??t. Dem entspricht als drittes die Konzentration auf die Er?ffnung von Freiheit bei der Gesellschaftsorganisation. Auch die sozialen Anspruchsrechte zielen (zumindest unter anderem) darauf - sie sollen dafür sorgen, da? selbst bei ungünstigen Umst?nden ein gewisses Ma? an Selbstrealisierung und Handlungsfreiheit für die autonomen Individuen noch m?glich bleibt. Da die Freiheit jedoch leer ist, blo?er Entfaltungsraum sein soll, mu? der gesellschaftliche Rahmen in Verfassung und Gesetzgebung - gewisserma?en in Entsprechung zur Formalit?t einer Vernunft- und Prinzipienethik - m?glichst formal gehalten werden. Dies geschieht dadurch, da? die Grunds?tze und ihre Konkretisierungen im Recht sich auf die Einrichtung gerechter Verfahrensformen auf der Ebene der Systemorganisation der Gesellschaft beschr?nken - wie etwa eben das Verfahren der Umverteilung von Profit aus dem Wirtschaftssystem in das System der sozialen Sicherung. Angezielt ist damit eine Trennung des Guten und Gerechten: Die Organisation der Gesellschaft soll für ein gerechtes Funktionieren der gesellschaftlichen Handlungssysteme sorgen, w?hrend die Erfindung des Guten, konkreter Lebensziele und Zwecke, den Individuen überlassen bleibt. Gerechtigkeit besteht darin, da? alle die Chance erhalten und behalten, ihre Vorstellung von einem guten Leben zu entwickeln und zu realisieren. Sandel nennt eine so verfa?te Gesellschaft eine "verfahrensrechtliche Republik" und betrachtet die USA als Musterbeispiel dafür.11 In Deutschland bedingt nicht zuletzt die Fernwirkung, die Locke und Kant für die Verfassungsgeschichte gehabt haben, eine ?hnliche Gesellschaftsorganisation.

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Aus einer kommunitaristischen Perspektive betrachtet behindert dies jedoch, da? sich ein Ethos der Solidarit?t und damit zugleich eine wirklich solidarische Gesellschaft entwickeln kann: Die Vorstellung vom selbstm?chtigen Individuum scheint in eine tats?chliche Individualisierung und Selbstzentrierung zu münden. Andere Menschen drohen dabei entweder nur als Grenze der eigenen Freiheit wahrgenommen zu werden, oder aber als Bezugspunkte für einen Respekt, der den anderen in Ruhe l??t, anstatt ihm beizustehen.12 Das Ganze der Gesellschaft tritt in dieser Sichtweise lediglich als Referenzort für eigene Ansprüche auf, nicht aber als etwas, für dessen Erhalt man sich engagieren mu? oder dem man etwas schuldet. Weder Solidarit?t im Nahbereich, noch in bezug auf die Gesamtgesellschaft scheint sich entwickeln zu k?nnen. Dazu scheinen au?erdem die weitgehend formale Organisation der Gesellschaft und ihre ebenso formalen Grunds?tze beizutragen. Diese Formalit?t gilt als Hindernis für die Identifikation mit der Gesamtgesellschaft und ein entsprechendes solidarisches Engagement. Das Ganze ist zu wenig anschaulich, zu wenig als aus Personen zusammengefügte Einheit erfahrbar und nicht im Ideal eines gemeinsamen Guten fa?bar. Alasdair MacIntyre meint deshalb: Für eine verfahrensrechtliche Republik wird im Notfall kaum jemand in den Krieg ziehen.13 Darüber hinaus kann die systemische Organisation von Solidarit?t, wie sie die sozialen Sicherungssysteme darstellen, auch dazu führen, da? die Individuen keine Notwendigkeit mehr sehen, ein solidarisches Ethos zu entwickeln oder sich sozial zu engagieren. Das eigene solidarische Engagement scheint gewisserma?en durch das System ersetzt. Diesem aber treten die Individuen dann m?glicherweise wieder nur mit Ansprüchen gegenüber, Ansprüchen, die das System überfordern k?nnen. So betrachtet gef?hrdet die systemische Solidarit?t sich selbst.

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Die kommunitaristischen Konzepte enthalten jedoch nicht nur diese kritische Perspektive, sondern ebenso Ans?tze zu einer L?sung der diagnostizierten Probleme. Mit Rainer Forst und Seyla Benhabib lassen sich zwei Zug?nge idealtypisch unterscheiden, die teilweise allerdings auch miteinander verbunden auftreten:14< So gibt es ein "substantialistisches" Modell einer gemeinsamen moralischen Identit?t. Es ist zugleich ein Versuch, moderne vernunft- und prinzienethische Ans?tze durch einen - wie ich ihn nennen würde - hermeneutischen Aristotelismus zu ersetzen. Eben darum bemühen sich MacIntyre und Taylor. Daneben steht ein "partizipatorisches" Modell der solidarischen Verantwortungsübernahme durch Mitwirkung am politischen Proze?. Es findet sich teilweise auch bei Taylor, vor allem aber bei Robert Bellah und Benjamin Barber.15 Der Substantialismus nun setzt gegen das ungebundene Selbst eine "soziale Konzeption des Menschen", das "situierte Selbst".16 Diese Situiertheit ergibt sich durch die Herkunft jedes konkreten Individuums aus einer Familie sowie durch die Sozialisation in einer konkreten Gesellschaft mit einer konkreten Geschichte. In diesem Zugang zeigt sich das hermeneutische Moment: Wie bei dem deutschen Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer erscheint jedes Individuum immer schon in einen Traditionszusammenhang eingebettet und sich nur aus diesem verstehen zu k?nnen.17 Deutlicher als MacIntyre spricht Taylor diesem Individuum durchaus die F?higkeit zur Reflexion und zum bewu?ten Rückbezug auf diese Tradition zu.18 Das situierte Selbst ist nicht blo? Ensemble der gesellschaftlichen oder geschichtlichen Verh?ltnisse, sondern ein personales Wesen,